Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und die Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien im Bundestag: Kinder- und jugendpolitische Vorhaben jetzt nicht vergessen!

Angesichts des Endes der Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP haben sich die Vorsitzende der AGJ und der Sachverständigenkommission des 17. Kinder- und Jugendberichts (KJB), Prof. Dr. Karin Böllert, die Präsidentin des Kinderschutzbundes und stellvertretende Vorsitzende der Sachverständigenkommission des 17. KJB, Prof. Dr. Sabine Andresen sowie der Vorsitzende des Bundesjugendkuratoriums Prof. Dr. Wolfgang Schröer in einem Offenen Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz und die Fraktionsvorsitzenden der demokratischen Parteien im Bundestag gewandt.

Ihr eindringlicher Appell: kinder- und jugendpolitische Gesetzesvorhaben noch zu realisieren. Die junge Generation braucht ein Zeichen verlässlicher Kinder- und Jugendpolitik auch in Krisenzeiten. Mindestens zwei Gesetzesvorhaben, an denen intensiv gearbeitet wurde, sollten die Adressat*innen des Briefes gemeinsam umsetzen: das Gesetz zur Stärkung der Strukturen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gegen Kinder (UBSKM-Gesetz) sowie das Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz (IKJHG).

Offener Brief
Kinder- und jugendpolitische Vorhaben jetzt nicht vergessen!
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, sehr geehrte Fraktionsvorsitzende der demokratischen Parteien im
Bundestag,
nach dem Ende der Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP möchten wir Sie dringend
bitten, kinder- und jugendpolitische Gesetzesvorhaben noch zu realisieren. Die junge Generation
braucht ein Zeichen verlässlicher Kinder- und Jugendpolitik auch in Krisenzeiten!
Das Motto des aktuellen 17. Kinder- und Jugendberichtes zielt auf das „Aufwachsen mit Zuversicht und
Vertrauen“. Zuversicht kann nicht verordnet und eingefordert werden. Sie setzt das Vertrauen in
gesellschaftliche Institutionen voraus, die sich selbst als vertrauenswürdig erweisen müssen. Das
Parlament hat jetzt die Möglichkeit, den Schutz vor sexualisierter Gewalt junger Menschen zu stärken
und inklusive Teilhabechancen für alle jungen Menschen zu eröffnen. Sie können durch ihre
Entscheidungen das Vertrauen in politische Entscheidungsprozesse stärken und dadurch Zuversicht
vermitteln.
Mindestens zwei Gesetzesvorhaben, an denen intensiv gearbeitet wurde, sollten Sie gemeinsam
umsetzen: das Gesetz zur Stärkung der Strukturen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt gegen Kinder
(UBSKM-Gesetz) sowie das Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz (IKJHG). Die vorliegenden
Gesetzesentwürfe wurden durch eine breite Basis überparteilicher sowie zivilgesellschaftlicher
Organisationen und Verbände beraten und unterstützt.
Das Gesetz zur Stärkung der Strukturen zum Schutz vor sexualisierter Gewalt (UBSKM-Gesetz) gegen
Kinder greift lange gehegte Anliegen der Fachpraxis und vor allem auch der Betroffenen sexualisierter
Gewalt auf. Insbesondere die Absicherung der Strukturen der Unabhängigen Beauftragten für Fragen
des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), die Stärkung des Betroffenenrates und der
Aufarbeitungskommission sind zukunftsweisend. Von dieser Bundesstruktur werden wichtige Impulse
für Prävention, Intervention und Aufarbeitung sexualisierter Gewalt ausgehen. Dies gilt insbesondere
für die Berichtspflicht gegenüber Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung – mit einem
eigenständigen Berichtsteil des Betroffenenrats. Der Gesetzesentwurf ist durch das Kabinett
beschlossen und auch zwischen den Fraktionen unstrittig. Sie können hier also sehr bald eine
Entscheidung treffen.
Das Kinder- und Jugendhilfeinklusionsgesetz (IKJHG) sollte in der ersten Novemberwoche im
Bundeskabinett beraten werden, nachdem zuvor in einem umfangreichen Dialogprozess ausgewogene
Kompromissformulierungen erzielt werden konnten. Sie könnten nun gemeinsam dafür Sorge tragen,
diesen sich bereits über mehrere Legislaturperioden ziehenden Prozess konstruktiv abzuschließen. So
vermitteln Sie den vielen Beteiligten in unserer Gesellschaft, die sich aus zivilgesellschaftlichem
Engagement für eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe eingesetzt und diesen Gesetzesentwurf
mitentwickelt haben, dass sich ihr Einsatz von Zeit, Kompromissbereitschaft, Expertise gelohnt hat.
In einem breiten Beteiligungsprozess wurden u.a. Forschungsarbeiten und Stellungnahmen durch
zahlreiche Akteure der Kinder- und Jugendhilfe, der Eingliederungshilfen, der Kinder- und
Jugendpsychiatrie sowie der Gesundheitshilfe und nicht zuletzt von Selbstorganisationen diskutiert,
um so eine Organisationsstruktur für die Zusammenführung von Hilfen zur Erziehung und
Eingliederungshilfen im Interesse junger Menschen mit Behinderungen und der Umsetzung der UN-
Behindertenrechtskonvention zu finden. Mit der Gesamtverantwortung der Kinder- und Jugendhilfe
für alle jungen Menschen sollte der Verschiebebahnhof unterschiedlicher Leistungsträger für körper-
und geistig-behinderte Kinder und ihre Familien stillgelegt werden. Junge Menschen aus der Kinder-
und Jugendhilfe und aus der Behindertenhilfe haben sich selbstorganisiert und sich intensiv in den
Prozess eingebracht.
Enttäuschen Sie diese engagierten Menschen jetzt nicht, nutzen Sie den Handlungsspielraum, der
Ihnen auch in der aktuellen Lage zur Verfügung steht und gestalten Sie eine inklusive Kinder- und
Jugendhilfe. Ein Ende des Prozesses an dieser Stelle würde für die jungen Menschen und viele andere
zivilgesellschaftlich Engagierte die Erfahrung bedeuten, dass Beteiligung nicht wertgeschätzt wird, dass
Beteiligung sich nicht lohnt. Das birgt die Gefahr des politikverdrossenen Rückzugs und stärkt
letztendlich politisch extreme Ränder, denen Inklusion schon längst ein Dorn im Auge ist.
Schutz vor sexualisierter Gewalt und Inklusion sind Rechte, die nicht verhandelbar sind. Werden Sie
bitte Ihrer Verantwortung für Kinder und Jugendliche, für starke Strukturen gegen sexualisierte Gewalt
und für inklusive Teilhabechancen gerecht.
Prof. Dr. Sabine Andresen, Präsidentin des Kinderschutzbundes und stellvertretende Vorsitzende der
Sachverständigenkommission des 17. Kinder- und Jugendberichtes
Prof. Dr. Karin Böllert, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe – AGJ,
Vorsitzende der Sachverständigenkommission des 17. Kinder- und Jugendberichtes
Prof. Dr. Wolfgang Schröer, Vorsitzender des Bundesjugendkuratoriums